Albumcover Electric Kindieland
04.07.2024


Raketen Erna: „Electric Kindieland“



Sinn und Unsinn



Unter der reißerischen Überschrift „Kinderlieder aus der Vorhölle“ hat sich jüngst mal wieder ein Autor der ZEIT über das „Genre“ Kindermusik und das darin „ständig betonte, gar nicht zu überhörende Nicht-erwachsen-Sein von Erwachsenen“ echauffiert. Man ahnt, auf welche Art von Kinderliedern er damit anspielt, doch die Wiederholung der immergleichen Vorurteile und Klischees über Kindermusik verleiht diesen trotzdem nicht mehr Substanz. Eher zeugt derlei unbedacht verbreiteter Quatsch von dem Unwillen des Urhebers, sich dem Thema Kindermusik mit der gebotenen Sorgfalt zuzuwenden. Hätte er sich bei seiner Recherche nur etwas mehr Mühe gegeben, dann wäre er ziemlich schnell auch auf Raketen Erna gestoßen und hätte sodann vermutlich seine liebe Not damit gehabt, diese Band in sein unflexibles kindermusikalisches Weltbild einzuordnen.

Tun wir mal so, als wäre auch uns das Berliner Trio noch vollkommen unbekannt. Wer oder was also ist Raketen Erna? Die Band selbst sagt: „Ein guter Charakter. Ein liebevoller Mensch, jemand, mit dem man tierisch viel Spaß haben kann und bei der jeder und jede so sein kann, wie er oder sie möchte.“ Mit Kindermusik hat diese Selbstbeschreibung erstmal nicht sonderlich viel zu tun, dafür aber umso mehr mit Haltung. Und genau damit gehen Raketen Erna in ihren Liedern ziemlich verschwenderisch um – auch auf ihrem inzwischen fünften Album „Electric Kindieland“. Kleine Kostprobe gefällig: »Wir gehen auf die Straßen, zeigen Flagge, bleiben bunt / haben Haltung, halten Wort, aber halten nicht den Mund.« Gleich im Opener „Regenbogenpulswärmer“ (ein einfallsreicher Reim auf den eigenen Bandnamen) klären Sänger und Gitarrist Marceese Trabus, Tarik Maana (Bass) und Caroline Weber (Drums) die Fronten und solidarisieren sich mit allen, die so wie die Band selbst ebenfalls für Solidarität einstehen. Im Vergleich zum gewohnten Sound der Band lässt das Lied überrascht aufhorchen, denn es verbindet elektronische Beats mit Rap-Einlagen und der mitreißenden Energie eines Rocksongs. Ein gelungener Auftakt – für die Platte selbst, wie ohne Zweifel auch für jedes Konzert von Raketen Erna. Gleich darauf folgt „Der Boden ist Lava“, ein Song, der die progressive Energie hält, sich inhaltlich aber in deutlich kindlicheren Gefilden bewegt, greift er doch ganz simpel die Regeln eines weit verbreiteten Kinderspiels auf.

Mit diesen zwei Titeln ist das thematische Spektrum des Albums bereits ziemlich präzise umrissen. Wie selbstverständlich führen Raketen Erna gesellschaftspolitische Ansichten und kindliche Lebenswelten zusammen und grundieren beides mit dem energetischen Sound einer gut abgehangenen Rockband. Diese Herangehensweise führt einerseits zu Liedern wie „Die sehr wichtigen Notrufnummern“ und „Auf dem Spielplatz ist was los“, oder gipfelt gar in einem Song wie „Verliebte Zahlen“. Sowas kann man wirklich nur Raketen Erna durchgehen lassen. Denn was in jedem anderen Kontext vermutlich als völlig unterkomplex abgestraft würde (»Die 7 liebt die 3, denn 7+3 sind 10. / Die 6 liebt die 4, denn 6+4 sind 10.«), erfährt im Zusammenspiel dieser Band eine eigentümliche künstlerische Aufwertung, inklusive schöner Schlusspointe. Dem entgegen steht ein Lied wie „Schritt für Schritt“ das die Kraft der Gemeinschaft beschwört und energisch zum entschlossenen Handeln gegen die großen und kleinen Ungerechtigkeiten in dieser Welt auffordert. (»Schritt für Schritt und Stein für Stein / reißen wir diese Mauern ein.«) „Upcycle“ (feat. Sukini) knüpft stilistisch an den elektronischen Sound des Anfangs an und motiviert zum achtsamen Umgang mit Müll. (»Up! Up! Up! / Gib mir deinen Stuff und ich cycle up.«) Am Ende der Platte rufen Raketen Erna sogar noch unmissverständlich zum „Aufstehen gegen Rechts“ auf. In dieser Klarheit hat sich bislang noch keine andere Kindermusikband gegen den besorgniserregenden Rechtsruck in unserer Gesellschaft positioniert. Hut ab!

Und doch glückt bei der gewagten Grätsche zwischen Kinderlied und Protestsong nicht alles. „Mama“ oder „Thomas aus Schöneberg“ lassen textliche Sorgfalt vermissen und bereichern die Platte nicht wirklich. Gleiches gilt für „Schalala, der Fussi-Song“, mit dem Raketen Erna etwas überraschend eine Stadion-Hymne abfeuern. (»Schalala schalala, unter Team spielt wunderbar / und wenn nicht, dann eben nicht.«) Womöglich besteht die Absicht dieses Titels aber auch nur darin, den musikalischen Idolen der Band ein Denkmal zu setzen? Die Nähe zu „Yellow Submarine“ von den Beatles ist jedenfalls unüberhörbar. Unterm Strich bleibt festzuhalten: Während „Electric Kindieland“ für Kindermusik-Neulinge eine Offenbarung sein wird, werden Raketen Erna-Fans auf diesem Album relativ wenig Neues entdecken. Das Trio bleibt seinem unkonventionellen Stil treu und präsentiert sich wie gewohnt als eine Band, die das traditionelle Kinderlied gehörig gegen den Strich bürstet.

Fazit: Mit „Electric Kindieland“ veröffentlichen Raketen Erna bereits das dritte Album in drei Jahren und laden Groß und Klein erneut in ihren dadaistischen Kindermusikkosmos ein. In der Kunst steht die Bewegung des Dadaismus für die Ablehnung von Logik und Vernunft, den Zweifel an gefestigten Normen und Idealen, für subversiven Humor und geistreichen Nonsens, für mehr zufallsgesteuerte als logisch durchdachte Werke. Ähnlich ließe sich auch die Musik dieser Band beschreiben. Meist macht sie einen großen Bogen um wohlig klingende Melodien, lineare Erzählmuster und abgeschlossene Geschichten – und erst in diesem eigenwilligen Gefüge finden Songs mit serienmäßig eingebautem Erziehungsauftrag ebenso Platz, wie meinungsstarke, antifaschistische Statements. Sinn und Unsinn liegen hier manchmal also dicht beieinander. Für unbedarfte Leser*innen mag das mehr nach Aktivismus als nach Kindermusikkultur klingen, doch genau so vielfältig ist diese Szene heutzutage eben. Auf ihre ganz eigene und durchaus beeindruckende Weise tragen Raketen Erna mit dazu bei, dass wir längst überholte Kindermusik-Klischees entspannt über Bord werfen können. Bis auch reichweitenstarke Medien wie die ZEIT diese Entwicklung anerkennen und würdigen, übernimmt „Mama lauter!“ diese Rolle gerne.


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Erschienen bei


Raketen Erna

Veröffentlicht


2024

Bewertung der Redaktion: 3/5


Künstler*in



Raketen Erna

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